Interview mit Joke Lanz, Turntablist
Eine Momentaufnahme meiner tiefsten Psyche
Dieses Interview fand am 30. Dezember 2013 in einem Café im Prenzlauer Berg in Berlin statt.
Beeinflusst von seinen vergangenen Erfahrungen als Punk-Musiker, überträgt er die Energie der Improvisation in seine experimentellen und noisigen Live-Performances. Als sein weitaus bekanntes alias Sudden Infant, ein Projekt, zu dem kürzlich Bassspieler Christian Weber und Schlagzeuger Alexandre Babel hinzugekommen sind, gelingen Lanz in seinen Bühnenaktionen Übergänge zu Body Art und Performance-Kunst. Dabei achtet er auf ein minimales Setup, das möglichst nicht von seinem Körper als Instrument und „lebendige und energetische Skulptur“ ablenken soll. 1[1. „Not only as a soundproducing tool, also as an energetic living sculpture.“ Tobias Fischer, „Interview with Joke Lanz / Sudden Infant,“ Tokafi, July 2010.] In seinen Turntable-Konzerten schafft er eine Klangwelt, die stets in körperliche Entitäten übertragen wird. Bisherige Interviews beschränkten sich meist auf sein Sudden Infant Projekt. Das folgende Gespräch mit Joke Lanz verrät mehr ihm als Turntablist. Er gewährt detailierte Einblicke in seine künstlerischen Konzepte und erzählt von seinen Erfahrungen als Turntablist im Orchester und den Schätzen in seiner Schallplattensammlung.
[Karin Weissenbrunner] Christian Marclay, einer der ersten Turntablisten, kam eigentlich aus dem visuellen Kunstbereich und begann mit dem Plattenspieler spielen, da er kein Instrument gelernt hatte und von Performance Art und Punk-Rock beeinflusst war. Waren diese Einflüsse auch wichtig für deinen Weg zum Turntable-Spielen und deine Sudden Infant Projekte?
[Joke Lanz] Die Energie der Punk-Musik war für mich immer sehr wichtig. Diese Energie habe ich dann rückwirkend in den Aktionen der Wiener Aktionisten gefunden und auch in der Performance Art der 80er Jahre. Der Plattenspieler und das Vinyl haben mich schon damals fasziniert und als ich dann Leute wie Christian Marclay und Otomo Yoshihide entdeckt habe, war die Sache klar für mich. Meine musikalische Sprache, die aus der Punk-Bewegung kam, ist auch jetzt noch in meinem Turntable-Spiel zu erkennen. Als ich klein war, habe ich mal Geige gespielt, und dann Bass in einer Punk-Band. Aber ich denke, dass ich beim Turntable spielen mehr Spaß habe, weil ich mir das selbst beigebracht habe. Irgendwie ist es viel offener nach allen Seiten hinaus. Man kann ja alles Mögliche machen.
Wie bereitest du deine Konzerte mit Turntable vor? Wie suchst du dir dein Ausgangsmaterial aus?
Also, es steht immer eine Idee für ein Stück im Raum. Aufgrund dieser wähle ich dann das Material aus, das ich verwenden möchte. Das sind bei mir natürlich die Schallplatten. Aber ich arbeite zum Teil auch mit dem Plattenspieler als Klangkörper selbst. Nicht so oft wie Ignaz [Schick] zum Beispiel, weil ich mich sehr gerne auf das Vinyl fokussiere. Aber ich verwende auch Manipulationen der Vinylplatten, man schneidet sie zum Beispiel auseinander, setzt sie neu zusammen oder klebt Klebeband auf die Rillen und so weiter. Aber was mich eigentlich doch in erster Linie interessiert, ist die direkte Herangehensweise an das Turntable-Spielen. Zum Beispiel das sehr intuitive und schnelle Auswählen von Material und dann die sofortige Umsetzung. Wie man das Material dann spielt, ob man es dann nur fragmentarisch laufen lässt, zum Beispiel, und dann wieder abklemmt, oder ob man es wiederholt, scratcht, die Geschwindigkeit verändert, rückwärts dreht, oder ob man Cut-Up Sachen macht, Kratzer, so Vinylkram… Da gibt’s natürlich unendlich viele Möglichkeiten der Spieltechniken. Und dann kommt das Material dazu: Ist es eine menschliche Stimme, die man dann doppelt so schnell laufen lassen kann, oder noch schneller oder langsam oder rückwärts oder scratcht, oder man scratcht nur ein Wort die ganze Zeit? Das ergibt dann so eine Textur. Das kann man dann wiederum verbinden, zum Beispiel mit einem Rhythmus, mit einem Drone oder mit einer anderen menschlichen Stimme, mit einem Hundegebäll; oder das Ganze ergibt eine gewisse Rhythmik oder einen Klangteppich. Man kann unendlich wieder aufbauen und unendlich dann auch wieder zerstören bis zur kompletten Stille. Stille ist auch ein großes Element bei mir in der Musik. Ich verwende Stille, also Breaks, und sehr viele Cuts immer wieder.
Auch als „framing“?
Es ist für mich auch ein Element der Dynamik. Also zum Beispiel, wir sitzen hier in diesem Raum und die Leute sprechen alle im Hintergrund. Man hört da so „Blablablabla“… Und manchmal gibt es Momente, bei denen plötzlich einfach Stille ist. Man sagt, „Da fliegt ein Engel durch den Raum.“ Für ca. zwei Sekunden spricht einfach niemand! Und plötzlich reden wieder alle. Das ist wirklich so ein dynamisches Element. Das ist dann: „Oh!—“, das ist ganz spannend. Das macht dann sofort die Ohren auf. Das mag ich sehr an der Musik. Lautstärke und Stille, die sich kontrapunktieren, irgendwie. Die Musik ist ja nicht ausschließlich nur das, was man hört, also für mich in diesem Sinn. Die Musik hat für mich auch einen Körper. Meine Musik hat einen Teil von mir. Das sind Gefühle, Emotionen, Ängste, Freuden — das sind somit nicht nur die akustischen Schallwellen, die ins Ohr gehen, sondern wirklich emotionale Aspekte, die sich da in irgendeiner Form manifestieren.
Du selber beschreibst deine Musik als „extreme form of musique concrète that juxtaposes spasmodic gibbering with disorienting electronics.“ Ein Journalist hat deine Musik mal als „cinematisch“ bezeichnet. Inwieweit würdest du dem zustimmen? Bei dir scheint mir die Musik weniger auf einen filmischen Eindruck konzentriert…
Naja, ich habe schon mal für Filme Musik gemacht und auch einmal zu Filmen Turntable live gespielt oder Kurzfilme live vertont. Aber du hast schon auch Recht, das ist nicht wirklich der wichtigste Ausgangspunkt in meiner Musik.
Also nicht so sehr bei den Solo-Konzerten?
Ja, also ich glaube bei mir ist nicht so sehr eine cinematografische Auslegung, sondern eher eine körperliche, physische Auslegung wichtig. Ich gehe ganz stark vom Mensch aus, vom Körper. Vielleicht sind es die ganzen chemischen Reaktionen, die in meinem Gehirn, in meinem Bauch, Magen, in meiner Lunge stattfinden — ich weiß auch nicht —, die sich alle mit den Synapsen und feinstofflichen Elementen als Verlängerung auf die Plattenspieler übertragen und das dann so rauskommt. Ich habe kein Bild in meinem Kopf oder einen Film. Es ist eher eine Momentaufnahme meiner tiefsten Psyche in mir drin oder von einer Körperlichkeit, irgendwo aus den Tiefen von mir selbst. Jeder Mensch hat ja seine Tiefen und da gibt es grausame Sachen, die da rumhängen, aber auch extrem liebevolle Sachen. Und vieles kommt oft gar nicht hoch oder nur ganz selten. Und das interessiert mich, die Dinge hochzuholen.
Aber das musst du ja schon im Vorhinein wissen, was mit dir in dem Moment passiert, da du deine Platten schon vorher auswählst?
Ja, das ist ein wenig ein Widerspruch [lacht etwas]. Also ich muss natürlich sagen, dass ich die Platten, das Material und auch die Erfahrungswerte, die ich durch das viele Spielen habe, schon einen gewissen Rahmen, eine gewisse Auswahl geschaffen haben, die schon vorhanden ist. Ich kenne mich ja auch. Es kommen selten Sachen hoch, die ganz neu für mich sind. Es kann passieren, aber [lacht] ich weiß ungefähr die Bandbreite und so kann ich auch das Material auswählen. Manchmal nehme ich 40 Platten mit und davon spiele ich vielleicht nur sieben während eines Konzerts. Oder ich nehme zehn Platten mit und spiele alle zehn, aber eine vielleicht nur zehn Sekunden lang und die andere dafür viel länger, je nachdem. Manchmal weiß ich gar nicht, wo die Nadel landet. Das muss ich auch sagen. Es ist sehr schwer zu koordinieren, aber das ist für mich immer eine Offenbarung, weil ich sehr stark mit dem Zufall spiele. Also, wenn ich hier raus gucke [blickt aus dem Fenster auf die Straße], dann sehe ich diese Leute und nicht andere Leute. Oder ich sehe ein schwarzes Auto, es könnte auch ein gelbes Auto sein. Genauso: die Nadel drauf [auf die Platte] und dann kommt dieser Klang und nicht der andere Klang. Und dann arbeite ich mit diesem. Das geht alles in unglaublicher Geschwindigkeit, das ist überhaupt nicht rational sondern eher intuitiv. Manchmal vergleiche ich es ein wenig mit Sexualität irgendwie. Sexualität schaltet das rationale Denken aus. Wenn du verliebt bist, wenn du einen anderen Körper spürst, wenn man Gefühle austauscht, dann kann man nicht mehr genau sagen, was mit einem passiert. Dann ist man irgendwo. Das ist ja dann das Tolle, das Verrückte. Es geht so in die Richtung.
Aber manchmal krieg ich auch wirklich so einen Kick, dass es so… Ja, wie wenn ein Engel durch den Raum geht, plötzlich tut sich was auf und du denkst: „Wow!“ Das passiert sehr oft im Zusammenspiel mit anderen Musikern. Wenn sich dann so Sachen miteinander vermischen oder reiben, und man weiß nicht wie das entstanden ist und es ist einfach plötzlich da. Es gibt beim Improvisieren dann manchmal diese Blicke, so ein ungläubiger Blick zum Mitmusiker rüber: „Was spielst du denn für einen geilen Scheiß hier? Es ist ja unglaublich.“ Und dann: „Hast du das gehört?“ Man denkt dann so etwas und irgendwie denkt der andere auch so etwas, es ist oft auch sehr telepatisch.
Also du verwendest nie eine Stoppuhr und sagst zum Beispiel: „So, nach zehn Minuten spiel ich dann was anderes, sonst wird es langweilig“?
Ne, wenn ich ein Solo-Turntable-Set spiele, was für mich etwas anderes ist als eine Improvisation mit jemanden, dann mache ich die Impro mit mir selber sozusagen. Aber ich kann selber sagen, „Ok, ich gehe jetzt mit diesem Material in mein Set rein.“ Und dann versuche ich irgendwie einen Wechsel auf etwas anderes, oder ich weiß ungefähr was vorhanden ist. Also oft denke ich mir den Anfang und den Schluss aus, ungefähr. Ein guter Anfang und ein guter Schluss ist oft die halbe Miete. Was dann in der Mitte ist, muss man gucken — wie man sich fühlt mit dem Raum, mit dem Publikum, mit sich selbst.
Und wenn du dir Anfang und Ende ausdenkst, welche Art von Form bereitest du vor? Willst du, dass das Set beispielsweise etwas Narratives hat, dass es immer neue Momente gibt oder dass man eher keine Zeitwahrnehmung erfährt?
Ne, ich denke mir schon eher etwas Dramaturgisches aus. Zum Beispiel spielt die Dynamik im Gesamtbild eine ganz starke Rolle bei mir. Das heißt ich arbeite viel mit ganz kleinen Sounds und dann aber auch wieder mit ganz starken, lauten Sounds. Dazwischen viele kleinere Pausen, Richtungswechsel, dann auch diese körperlichen Sounds, die ich immer wieder verwende, oder auch Sprache — auch starke Abstrahierungen vielleicht mit ganz kurzen, kleinen Zitaten, zum Beispiel eine kleine Kinderstimme, die so [summt hoch] irgendetwas summt und dann parallel dazu Mönchsgesang, so eine tiefe Männerstimme [summt tief]. Da kann man sich sofort Sachen ausdenken. Aber bevor man sich dann zu lange damit aufhält, ziehe ich das dann wieder weg. Ich möchte Leute nicht in Sicherheit wiegen. Ich bin selber auch nie in Sicherheit. Das Leben ist zum Glück so vielfältig und jeder Tag bringt wieder etwas Neues, dass man sich nicht immer in kompletter Sicherheit wiegt. Und so gestalte ich auch meistens meine Solo-Sachen, dramaturgisch gesehen.
Zum Beispiel bei der Aufnahme meiner CD Münster Bern: das war ein Festival in einem großen Münster, eine Kathedrale eigentlich, und ich wusste, dass das Konzert dort ist und dass ich dort solo spiele. 2[2. Aufgenommen am 22. Oktober 2011, beim „zoom in“ Festival für improvisierte Musik und zeitgenössische Kunstformen im Berner Münster (Schweiz).] Da habe ich mir natürlich ein paar Gedanken gemacht. In so einem Kirchenschiff gibt es eine unglaubliche Akustik, die Klänge gehen epochal in die Höhe, also sehr eindrücklich natürlich, fast religiös zum Teil. Dafür habe ich mir ein paar Platten mit Kirchenglocken zusammengesucht und diese dann zu Beginn meines Sets gespielt. Im ersten Moment einfach ganz real, ohne Manipulation und dann mit der Zeit habe ich angefangen, diese zu verdoppeln, zu vervierfachen oder die Geschwindigkeit zu verändern. Ich habe angefangen so eine Art Klangteppich aus Kirchenglocken zu basteln. Und das hat sich dann gesteigert. Und dann bin ich irgendwie woanders hin.
Also, grob betrachtet ist es dann eine Collage?
Es ist schon ein collagenartiges Gebilde, ja…
Obwohl die einzelnen Teile einen Aufbau haben?
Ja, man könnte die einzelnen Teile aus dem Ganzen rausnehmen und man hätte so ein kurzes Stück mit einer Thematik drinnen.
Ich habe dich zuerst als Turntablist bei TITO [The International Turntable Orchestra in der Akademie der Künste, Oktober 2009] gesehen und habe von deinem Sudden Infant-Projekt erst später erfahren.
Es ist ja alles nicht so überschaubar in diesem ganzen Dschungel von experimenteller Musik, den es mittlerweile gibt. Da gibt es unglaublich viele Leute, die ganz tolle Sachen machen und die kennt man gar nicht. Und viele Leute wussten damals gar nicht, dass ich Turntables spiele, zum Beispiel die kannten mich nur von meinen Sudden Infant-Sachen. Heute gibt es noch Leute, die das nicht wissen oder umgekehrt.
Hast du an der Universität studiert?
Nein, nicht wirklich. Ich wollte nicht mehr in die Schule. Ich habe eine Hochbau-Zeichnerausbildung gemacht. Aber die habe ich nicht fertig gemacht, das war mir zu langweilig, zu wenig kreativ. Dann habe ich eine Handelskaufmann-Ausbildung gemacht. Das war grottenlangweilig, aber ich musste irgendetwas machen. Und als ich das fertig hatte, habe ich auf dem Bau gearbeitet oder in Fabriken. Also, ich habe alles Mögliche gemacht.
Ich sehe es als Problem, dass viele die zum Beispiel in der Kunsthochschule waren und noch nie im Arbeitsleben standen, danach mit der Kunst oder der Musik auf beiden Beinen stehen wollen. Das ist unglaublich schwierig. Die haben noch nie gelernt, was es heißt, einfach irgendwo mal ein Jahr lang in einer Fabrik zu arbeiten, einfach um zu überleben. Das würde vielen gut tun, glaube ich, dass sie die Realität des Lebens spüren. Dann können sie das mit der Musik oder der Kunst mal neu kalkulieren. Und ich habe das immer so gemacht, die Musik war bei mir immer Teilzeit. Arbeit, um zu leben, Musik, dann Vater. Dann wollte ich natürlich für mein Kind Zeit haben und wollte keinen 100%-Job haben, habe immer nur circa 60% gearbeitet. Dann mein Kind, die Musik. Dann wurde die Musik immer größer, die Arbeitsstellen wurden immer kleiner. Und vor circa zehn Jahren hatte ich ein Stipendium in London, danach habe ich volles Risiko auf die Musik gesetzt. Es ist manchmal schwierig mit der Sicherheit…
Welche Projekte hast du mit anderen Musikern als Turntablist?
Ich habe meistens außerhalb Deutschlands mit anderen Leuten Turntable gespielt, zum Beispiel mit vielen aus der Schweiz, aus Österreich oder auch in England. Als ich in London gewohnt habe (2004), hatte ich auch schon Turntable-Auftritte, zum Beispiel bei den Bohman Brothers [Jonathan und Adam Bohman] aus der Impro-Szene. Die haben früher regelmäßig Konzerte in einem ganz kleinen Café in Bonnington Centre organisiert; das gibt es jetzt aber nicht mehr. Da gab es das Cafe Oto noch nicht — das Cafe Oto ist schon ein geiler Ort, es ist einer der besten Orte in London momentan. Bei Resonance 104.4 FM [Radiostation in London] kenne ich auch viele. Dort habe ich auch im Studio gespielt.
Auch habe ich einmal bei dem Transart Festival in Bozen [Italien] für den Komponisten Jorge Sánchez-Chiong mit dem Radio Symphonie Orchester Wien gespielt. Es werden immer öfters in der Neuen Musik Turntables für Orchesterstücke eingesetzt.
Das Turntable etabliert sich langsam.
Ja, ich finde das toll, es ist spannend. Das war für mich eine unglaubliche Erfahrung als ich damals nach Wien geflogen bin und dort eine Woche lang mit dem großen Orchester und dem Dirigenten geprobt habe. Und ich habe meine eigene Partitur geschrieben — ich kann schon Noten lesen, aber nicht so gut und das wäre zu anstrengend gewesen. Natürlich habe ich mich mit dem Komponisten Jorge abgesprochen. Und dann haben wir das beim Wien Modern am Eröffnungsabend im Konzerthaus aufgeführt und ich war so nervös, das kannst du dir nicht vorstellen. Du stehst dann auf einem Podest — neben dem Dirigenten, vor dem Orchester — als Solist, Plattenspieler, und siehst das eindrückliche Orchester. Und irgendwann dreht sich der Dirigent um, guckt auf dich: „So und jetzt!“ [lacht] Und die Orchestermusiker — das sind ja richtige Angestellte, Beamte, stechuhrmäßig legen diese die Noten hin und spielen — für die war das verrückt. Die wenigsten konnten etwas damit anfangen. Aber es war sehr spannend.
Was würdest du sagen, verbindet dich mit den Musikern Mat Pogo [Berliner Improvisationsmusiker, verwendet hauptsächlich Stimme] und Dieter Kovačič aka dieb13 [In Berlin lebender Turntablist und Improvisationsmusiker]?
Hm, wir alle sind vielleicht nicht mehr ganz so junge Männer, die immer noch eine gewisse Verrücktheit haben und Humor — der alltägliche Wahnsinn.
Mit dem Wiener Turntablisten Dieter Kovačič hattest du auch schon mehrere musikalische Begegnungen.
Wir haben schon öfters zusammen gespielt und immer ganz viel Spaß. Bei TITO hatten wir zum Beispiel ein Duo zusammen. Und dort konnte man in dem Foyer auch Dubplates 3[3. Eine Acetat-beschichtete oder Vinyl-Schallplatte, hergestellt als Einzelstück, um Aufnahmen zu testen.] herstellen lassen. Da hatten wir die Idee, dass wir vor unserem Duo mit einem Aufnahmegerät Schimpfwörter aufnehmen, also wienerische und schweizerische Schimpfwörter. Und dann haben wir das dem Typen auf dem USB-Stick gebracht. Dieser hat uns dann eine 7-inch in zweifacher Ausführung gemacht. Dann haben wir im Duo mit diesen Schimpfwörtern gespielt [lacht]. Also etwas gescratcht und ich habe ihm irgendein Schimpfwort hingeworfen, dann hat er mit einem wienerischen geantwortet. Oder er hat ein schweizerisches gebracht und ich ein wienerisches. Die Leute im Publikum haben richtig angefangen zu lachen. Ich glaube, das kann ich nicht mit jedem machen. Aber mit dem Dieter schon.
Inwieweit siehst du dich als Künstler politisch motiviert?
Ich war früher viel politischer als ich heute bin. Das hat vielleicht auch mit dem Alter zu tun, dass man sich auch verändert und Dinge mal anders sieht, als immer nur kämpfend. Aber ich merke, dass ich auch öfters solche Phasen habe, bei denen meine alten Hirnzellen wieder aufblinken und ich merke, ich müsste mal wieder mehr in diese Richtung gehen. Ich bin latent immer ein wenig politisch, aber nicht mehr so explizit. Ich habe früher oft solche Titel für meine Stücke gewählt, die etwas mit der Unterdrückung der Kinder zu tun haben oder mit dem Terror der Großstädte, ich war ein großer Autogegner. Ich war nie ein Tierschützer oder Veganer, sondern habe mich eher für die Menschen eingesetzt.
Waren für dich die Avantgarde-Bewegungen des letzten Jahrhunderts, wie zum Beispiel Fluxus, inspirierend?
Also irgendwann war Fluxus schon ein Thema. Ich habe lange Zeit in Zürich gelebt und war sehr stark vom Dadaismus fasziniert, der ja dort seine Geburtsstunde hatte, im Cabaret Voltaire in der Altstadt von Zürich. Dort habe ich mit Freunden, der Schimpfluch-Gruppe, sehr stark dadaistisch orientiert gearbeitet. Obwohl wir die Tonbandtechnik der Ende 80er/90er und diverse Methoden, die man mit den Kassettenrekordern machen kann und so weiter, erweitert haben. Aber auch die Ironie des Dadaismus, diese Selbstironie, das Infragestellen, der Humor [waren eindrucksvoll]: das Leben ist schon ernst genug, lass uns einfach mal das Ganze eher in humorvolle aber auch verrückte Weise umsetzen. Das hat mich sehr fasziniert.
Und als ich dann selber auch noch Vater wurde — ich war noch jung, 24 Jahre, 1989, [hatte] dann so ein kleines Baby — ich war selber noch ein Kind fast, gedanklich gesehen — auch dazu beigetragen, zum Beispiel bei dem Sudden Infant-Projekt. Und Fluxus kam dann auch zwangsläufig. Vor allem der Wiener Aktionismus hat mich in meiner Arbeit ganz stark geprägt, auch Fluxus und Happenings von den 1970er Jahren, wobei Fluxus für mich beinahe zu „hippiesk“ daher kam und ich dann schon vom Punk geprägt war. Dieses do-it-yourself vom Punk und Dadaismus her, hat mich sehr fasziniert.
Sind auf deinen Alben Turntable Cookbook (2002) und Turntable Abuse (1998) reine Turntable-Stücke und sind die noch erhältlich?
Das sind alte Sachen, die gibt es nicht mehr. Die sind schon längst vergriffen. Das Turntable Cookbook Album (2002) war eine stark limitierte CD, bei der ich nur Turntable-Sachen gemacht habe. Mit sehr vielen konkreten Zitaten, sehr viele Loops. Ich habe zum Beispiel Kinderschallplatten genommen und in ein paar Stücken mit diesen gearbeitet. Bei anderen Stücken habe ich Rockabilly Sachen genommen, aufgetrennt und neu zusammengefügt.
Verwendest du eher Cut-ups [aus verschiedenen Vinylschallplatten zusammengefügte Platte] oder nimmst du selber auch Platten auf?
Ich verwende beides, Cut-ups und Dubplates.
Wo kann man das heute noch machen? Bei SchneidersLaden [Berliner Geschäft für elektronische Musikinstrumente]?
Ja, oder bei Hardwax [Berliner Schallplattengeschäft] kann man auch Dubplates machen. Ich habe dort erst neulich für das Konzert im Exploratorium mit dem Berliner Domino Orchester mit Musik von dem Klarinettisten, der das Orchester geleitet hat, zwei Dubplates machen lassen. Die konnte ich dann einspielen.
Ich habe auch sehr viele eigene Schallplatten, also meine Sudden Infant-Sachen zum Beispiel, die auf Platte rauskamen. Diese benutze ich dann wiederum für meine Turntable-Sachen. Das ist dann oft wie ein Recyclingprozess. Und manchmal presse ich dann wieder zwei bis drei Exemplare oder mache so ein Lake cut [Lack-Dubplate], so ein Plastikding, womit ich dann spielen kann. Aber sehr gerne gucke ich mir die Trödler und Flohmärkte an, wo oft uralte Schallplatten rumliegen, die zum Teil auch ganz obskure Sachen drauf haben wie zum Beispiel Herztöne. Es gibt so wissenschaftliche Schallplatten, die in den 1960 und 1970er Jahren gepresst wurden; für angehende Ärzte und so. Damals war das das Medium, um etwas zu vermitteln. Kassetten und Schallplatten. Ich habe zum Beispiel eine ganze Serie von 7-inches, alte Singles, zu Hause von der Ärzteserie Medical English for German Doctors [medizinisches Englisch für deutsche Ärzte] und jede Single hat ein eigenes Thema, zum Beispiel „delivery“ — Geburt (Fig. 2). Darauf hört man ein Gespräch im Geburtssaal zwischen dem Arzt und der Hebamme und der Patientin, die gerade hochschwanger gebärt, auf Englisch [lacht]. Das ist so super. Solche Sachen gibt es ja jetzt eigentlich nicht mehr… Ich denke mal, in der heutigen Zeit ist ja alles digital. Die CD ist sogar auch schon am Aussterben; die Leute haben alles digital auf dem Rechner, man kann sich alles runterladen. Deshalb glaube ich, dass dieses haptische, altmodische Teil von einem Plattenspieler mit Vinylschallplatten umso spannender ist. Für mich sind Schallplatten auch sehr organisch, das ist für mich fast wie ein Lebewesen. Schallplatten haben auch diese Knistertöne darauf und je mehr man die Platte abspielt, desto mehr verändert sie sich auch. Manchmal bleibt auch die Nadel hängen, auch ohne dass man irgendetwas macht. Das ist verrückt. Und man kann nur durch eine kleine Einwirkung den Klang verändern. Und das ist das Fasziniernde für mich mit so etwas zu arbeiten.
Der Plattenspieler wird zunehmend als Instrument angesehen und DJs, die Schallplatten spielen, beweisen sozusagen mehr Können, als solche, die mp3-Files mit dem Laptop abspielen. Wobei es ja auch diesen Ersatz aus Soft- und Hardware „Traktor Scratch“ gibt.
Aber das kann das nicht ersetzen, das Direkte. Das ist genauso wie virtuelle Liebe, das kann auch keine echte Liebe ersetzen.
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